"...Der demokratische, gewaltengeteilte Verfassungsstaat ist der bedeutendste und erhaltensbedürftigste zivilisatorische Fortschritt der Geschichte....Vor diesem Hintergrund betrachte ich es als einen gravierenden Mangel des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“, dass nach wie vor das alleinige Initiativrecht für Richtlinien (künftig: Gesetze) der Europäischen Union bei der EU-Kommission verbleibt und dieses dem Europaparlament vorenthalten bleibt. Damit erhält das Europaparlament nicht den konstitutionellen Rang einer Legislative. Es bleibt vor allem dadurch bei dem schwerwiegenden Mangel an demokratischer Legitimität der EU-Organe, der bereits die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza charakterisiert....."
"...Umso schwerwiegender ist deshalb, dass dennoch das Prinzip der demokratischen Gewaltenteilung nicht unumstößlich verankert, sondern de facto sogar ausgehöhlt wird. ...."
"...Es geht nicht um die Frage Nationalstaat versus Europa, sondern um die Frage der Aufrechterhaltung eines größtmöglichen Maßes an demokratischer Selbstverwaltung überall in Europa versus unverhältnismäßiger politischer Zentralisierung. Die wichtigste Aufgabe des Verfassungskonvents wäre es gewesen, den europäischen Integrationsprozess zu vertiefen bei gleichzeitiger Überwindung der Demokratielücke. Dieses ist erneut nicht gelungen."
"...dass der „unverfälschte Wettbewerb“, definiert als freier Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, auf eine Ebene mit menschlichen Freiheitsrechten bzw. menschlichen Grundrechten gestellt wird. Damit verpflichtet die Verfassung indirekt auf ein wirtschaftliches Ordnungsprinzip, das selbst für eine marktwirtschaftliche Ordnung zu einseitig ist. Die Festlegung auf ein wirtschaftliches Ordnungsprinzip gleich, um welches es sich handelt gehört in keine Verfassung. Sie legt allen politischen Institutionen Handlungsfesseln gegenüber einer flexiblen und pragmatischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf."
Hermann Scheer, 12.5.05
Schriftliche Erklärung zur Abstimmung nach § 31 GO des Bundestages:
Als überzeugter Verfechter der politischen Integration Europas hin zu einem europäischen Verfassungsstaat auf föderativer Grundlage enthalte ich mich bei der Abstimmung zu dem „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ der Stimme. Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass ich für eine Verfassung der Europäischen Union bin, aber mit dem vorliegenden Vertragstext aus zwei prinzipiellen Punkten nicht einverstanden sein kann, weil ich darin mehr eine Beeinträchtigung als eine Förderung des demokratischen Integrationsprozesses sehe.
Der Philosoph Otfried Höffe hat in seinem Werk „Demokratie im Zeitalter der Globalisierung“ ein denkwürdiges Leitmotiv zum Prozess der Herausbildung transnationaler politischer Institutionen formuliert, das ich als elementar betrachte und vollinhaltlich teile: „Weder darf die einzelstaatliche Demokratie bei der Bildung einer großregionalen Union, noch darf deren demokratisches Niveau bei der Bildung der Weltrepublik gefährdet werden.“
Der demokratische, gewaltengeteilte Verfassungsstaat ist der bedeutendste und erhaltensbedürftigste zivilisatorische Fortschritt der Geschichte. Dafür sprechen sowohl ethische Gründe wie auch solche der Zukunftssicherung jedweden Gemeinwesens. Die ethischen Gründe sind die, dass allein ein gewaltengeteilter demokratischer Verfassungsstaat gewährleistet, Freiheitsrechte und Gemeinwohlorientierung immer wieder erneut in Einklang bringen zu können. Die Zukunftssicherung eines Gemeinwesens hängt entscheidend davon ab, dass dieses dauerhaft lernfähig bleibt und zu laufenden Selbstkorrekturen in der Lage ist. Dies kann allein eine gewaltengeteilte Demokratie gewährleisten. Nur diese ermöglicht eine dauerhafte Funktionsfähigkeit und damit Legitimität politischer Institutionen sowie die Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses.
1. Vor diesem Hintergrund betrachte ich es als einen gravierenden Mangel des „Vertrags über eine Verfassung für Europa“, dass nach wie vor das alleinige Initiativrecht für Richtlinien (künftig: Gesetze) der Europäischen Union bei der EU-Kommission verbleibt und dieses dem Europaparlament vorenthalten bleibt. Damit erhält das Europaparlament nicht den konstitutionellen Rang einer Legislative. Es bleibt vor allem dadurch bei dem schwerwiegenden Mangel an demokratischer Legitimität der EU-Organe, der bereits die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza charakterisiert. Ich erkenne zwar an, dass der Verfassungsvertrag gegenüber den bisherigen Verträgen eine Reihe von Verbesserungen der Entscheidungsverfahren enthält. Aber der Verfassungsvertrag ist ein qualitativ neuer Schritt. Er beansprucht explizit eine höhere Legitimationskraft als die bisherigen Verträge. Er wird schwerer zu ändern sein als diese. Umso schwerwiegender ist deshalb, dass dennoch das Prinzip der demokratischen Gewaltenteilung nicht unumstößlich verankert, sondern de facto sogar ausgehöhlt wird. Die Bedingung für den Beitritt zur Europäischen Union ist, dass beitretende Länder eine demokratische Verfassungsordnung haben. Wenn dieses sich aber in dem Verfassungsvertrag nicht wieder findet, obwohl es mit diesem zu einer Ausweitung der ausschließlichen Zuständigkeiten der EU-Organe – und damit vor allem der Kommission – sowie des Katalogs der geteilten Zuständigkeiten (und damit potenziell einer kontinuierlichen Zentralisierung der Gesetzgebung) kommt, gibt es kein adäquates demokratisches Substitut für den damit einhergehenden Kompetenzentzug der demokratischen Verfassungsorgane der Mitgliedsländer.
Es geht nicht um die Frage Nationalstaat versus Europa, sondern um die Frage der Aufrechterhaltung eines größtmöglichen Maßes an demokratischer Selbstverwaltung überall in Europa versus unverhältnismäßiger politischer Zentralisierung. Die wichtigste Aufgabe des Verfassungskonvents wäre es gewesen, den europäischen Integrationsprozess zu vertiefen bei gleichzeitiger Überwindung der Demokratielücke. Dieses ist erneut nicht gelungen. Wie schwerwiegend dies ist, zeigt sich daran, dass seit den 90er Jahren die Europaskepsis in der europäischen Bevölkerung parallel zu dem Kompetenzzuwachs der europäischen Institutionen gewachsen ist, wie unter anderem die zurückgehenden Wahlbeteiligungen an den Europawahlen zeigen. Die Gründe sehe ich in der Demokratielücke. Es ist zu einfach, alle Kritiker des Vertragsentwurfes „anti-europäisch“ und „pro-nationalistisch“ zu bewerten. Die Europäische Union braucht Gemeinschaftskompetenzen, die sie noch nicht hat, gleichzeitig gibt es bereits Gemeinschaftskompetenzen, die auf die Ebene der Mitgliedsstaaten zurückverlagert gehören. Der Vortrag für eine Vorfassung behandelt nur ersteres und nicht letzteres. In ihm liegt die überall in der EU offenkundige Gefahr institutioneller Integration bei gleichzeitiger zivilgesellschaftlicher Desintegration in Bezug auf die europäische Gemeinschaftsidee.
2. Der Verfassungsvertrag besagt in Art. I-3: „Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb.“ In Art.I-4 („Grundfreiheiten und Nichtdiskriminierung“) heißt es an erster Stelle: „Der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie der Niederlassungsfreiheit der Union werden innerhalb der Union und von der Union gemäß der Verfassung gewährleistet.“ Daraus ergibt sich für mich aus einer teleologischen Auslegung, dass der „unverfälschte Wettbewerb“, definiert als freier Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, auf eine Ebene mit menschlichen Freiheitsrechten bzw. menschlichen Grundrechten gestellt wird. Damit verpflichtet die Verfassung indirekt auf ein wirtschaftliches Ordnungsprinzip, das selbst für eine marktwirtschaftliche Ordnung zu einseitig ist.
Die Festlegung auf ein wirtschaftliches Ordnungsprinzip – gleich, um welches es sich handelt – gehört in keine Verfassung. Sie legt allen politischen Institutionen Handlungsfesseln gegenüber einer flexiblen und pragmatischen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf. Das Binnenmarktprinzip wird damit dogmatisiert und überstrapaziert. Zwar gibt es keinen diesbezüglichen Automatismus, weil jedes einzelne Europäische Gesetz für sich verabschiedet wird. Aber die genannten Verfassungsgrundsätze geben dem europäischen Gesetzgebungsprozess schon deshalb eine dogmatische Schlagseite, weil sich der Europäische Gerichtshof in Streitfragen daran orientieren muss. Die Gefahr der Verabsolutierung dieses Binnenmarktprinzips ergibt sich schon deshalb, weil mit diesen Grundsätzen nicht nur eine sektorale Zuständigkeit der EU-Organe gegeben ist, sondern eine funktionale, d.h. eine, mit der diese potenziell in allen wirtschaftlichen Fragen eine Regelungszuständigkeit beanspruchen kann – so wie es bereits in der jüngeren Vergangenheit zunehmend der fall gewesen ist, wie die Auseinandersetzungen über die Dienstleistungsrichtlinie entscheiden.
Ich respektiere alle Voten für den Verfassungsvertrag, die gleiche Bedenken haben, aber ihr dennoch aus einer Gesamtabwägung zuzustimmen, weil sie glauben, dass diese beschriebenen Mängel auch mit diesem Vertrag aufhebbar sind. Ich habe Zweifel, dass das auf dieser Grundlage gelingen kann.
Mit meiner Enthaltung will ich verdeutlichen, dass diese beiden elementaren Mängel des Verfassungsvertrags unverzüglich geheilt werden müssen, damit die Verfassung für Europa Bestand hat, in der europäischen Bevölkerung verankert werden und Europa demokratisch funktionsfähig werden kann. Mit Kriterium der Bewertung dieses Vertragsentwurfs ist kein nationales, sondern eines, das sich aus einem Grundverständnis einer demokratischen Verfassungsordnung ergibt, deren Essenzen allgemeine Gültigkeit haben sollten.
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